Genuss und Provokation, Verzauberung und Belehrung, unbeschwerte Unterhaltung und politische Aufklärung –
das Theater spielt vielerlei Rollen und hat vielerlei Ansprüche zu erfüllen. Die Welt des Theaters, wie wir
sie heute kennen, entstand um 1900 – und dieser spannungsgeladene Umbruch steht im Mittelpunkt der
Niederösterreichischen Landesausstellung 2003. Alle Erscheinungsformen der gegenwärtigen Bühnenkunst –
von der ehrwürdigen Tradition bis zur heiß umkämpften Avantgarde, vom Kult internationaler Schauspiel- und
Regiestars bis zu kühn-abstrakten Ausstattungen – haben ihre Wurzeln vor rund hundert Jahren.
Fruchtbare Gegensätze prägen das Theater, und sie prägen auch die Ausstellung: Von Hans Makart bis zu Pablo
Picasso, vom Historismus über den Jugendstil bis zum Expressionismus, vom Hoftheater bis zur Experimentalbühne
reicht der Bogen, den die wertvollen Exponate spannen. Gegensätzlich sind auch die Beziehungen des
Ausstellungsortes Reichenau an der Rax zu den Brettern, die die Welt bedeuten: heute Schauplatz der beliebten
Festspiele, war Reichenau in der k. u. k. Monarchie ein mondänes Urlaubsziel, wo zum Beispiel Arthur
Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal Erholung suchten.
Weil sich Theater nicht allein durch Bühnenbilder, Filmausschnitte und Kostüme einfangen lässt, werden in der
Ausstellung ständig Theaterszenen zu sehen sein – von Schauspielern live dargeboten.
Was im 19. Jahrhundert auf der Bühne Usus war, würde heute nicht nur antiquiert, sondern vor allem völlig
fremd wirken; die Revolution des Theaters um 1900 ließ keinen Stein auf dem anderen:
Die Geburt der Regie
Dass es eine Person geben soll, die einer Theaterproduktion ihren Stempel, ihre Interpretation,
ihre Sichtweise aufdrückt – diese Idee entstand frühestens um 1910. Vorher hatte der „Regisseur“ nur die
Aufgabe, Auf- und Abtritte so zu regeln, dass Zusammenstöße zwischen den Darstellern ausblieben.
Die Geburt des Bühnenbildes
Im 19. Jahrhundert waren ästhetisch einheitliche Dekorationen für eine Aufführung an den meisten Theatern
unbekannt. Man verwendete einerseits „Typendekorationen“: Derselbe Ballsaal oder Garten oder Stiegenaufgang
konnte in zahlreichen verschiedenen Stücken die Bühne schmücken. Andererseits inszenierte man oft nur einen
einzigen Akt neu, dessen Bühnenbild abgenutzt schien oder nicht mehr gefiel, und ließ den Rest der Aufführung
unangetastet. Vor allem aber gab es keine dreidimensionale Dekorationen; die Bühnenbildner arbeiteten wie
Maler, nicht wie Architekten.
Die Geburt der modernen Bühnentechnik
Die Erfindung des elektrischen Lichts veränderte das Theater von Grund auf – das Theater, nicht nur die Bühne!
Zuvor waren zum Beispiel die Parterreplätze die schlechtesten im Hause gewesen, weil die überdimensionalen
Karbidlampen, die vorn an der Rampe standen, die Sicht verdeckten.
Die Geburt des internationalen Starkults
Sänger, Schauspieler, Regisseure und Tänzer, die kreuz und quer durch die Welt reisten und überall
frenetischen Beifall fanden, gab es erstmals um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – schon wegen der
Beschwerlichkeit des Reisens war vorher an ein solches Künstlerdasein nicht zu denken.
Die Geburt des sozialkritischen Theaters
Die Avantgarde blieb keineswegs auf ästhetische Fragen des Bühnenbildes und der Regie beschränkt; fast
gleichzeitig entwickelte sie auch einen politischen Anspruch. Dass das Theater die Welt verändern, die
Zuschauer aufklären und die Gesellschaft analysieren will, ist ein Produkt der Jahre nach 1900.
In der Ausstellung „Theaterwelt – Welttheater“ sind all diese Themen mit Hilfe von exzellenten Exponaten
dargestellt. Einer der Pioniere des Bühnenbildes war der Secessionist Alfred Roller an der Wiener Hofoper
unter der Direktion Gustav Mahlers; dem „Don Giovanni“ von Roller und Mahler ist ein ganzer Raum der
Ausstellung gewidmet, und hier werden auch von den Schauspielern einige Szenen nachgestellt. Picassos
originale Dekorationsentwürfe für die Ballets Russes sind ebenso zu sehen wie die innovativen
Bühnenraumvisionen von Edward Gordon Craig oder Adolphe Appia.
Kostüme, Fotos, große und kleine Erinnerungsstücke repräsentieren das Leben und das Werk von Stars wie Max
Reinhardt, Leo Slezak, Charlotte Wolter, Sarah Bernhardt, Isadora Duncan oder Eleonora Duse. Eine
Multimediashow macht die Entwicklung der Bühnentechnik anschaulich. Und ein besonderes Gustostückerl für die
Freunde der großen Schauspielkunst: Der Iffland-Ring, höchste Auszeichnung für deutschsprachige
Bühnendarsteller, wird erstmals öffentlich ausgestellt.
Auch die Region, in der die Ausstellung stattfindet, soll den Besuchern nahe gebracht werden: Ein aufwändig
gestalteter Themenweg durch den Kurpark macht mit der illustren Geschichte von Reichenau an der Rax ebenso
bekannt wie mit der Semmeringbahn, die jüngst zum Weltkulturerbe erhoben worden ist.